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INTERVIEW WITH HUBERTUS HEIL, FEDERAL MINISTER OF LABOUR AND SOCIAL AFFAIRS OF GERMANY

 

By Dr. Martha Theodorou

 

Deutschland spielt eine führende Rolle im Rahmen des europäischen Projektes. Was ist, Ihrer Meinung nach, bisher Deutschlands größter Beitrag auf dem Weg zur europäischen Integration?

Besonders wichtig war für mich der Vorschlag für einen Wiederaufbau-Fonds im Mai 2020. Den hatten Deutschland und Frankreich gemeinsam erarbeitet. Aus dieser Initiative ist dann in den weiteren Verhandlungen zwischen Rat, Kommission und dem Europäischen Parlament die heutige Aufbau- und Resilienzfazilität entstanden. Die soll allen Mitgliedstaaten dabei helfen, die Krise zu überwinden. Dafür müssen wir solidarisch miteinander umgehen.

 

Im Rahmen der Unterstützung der EU-Mitgliedstaaten durch die Aufbau- und Resilienzfazilität (RRF) hat Deutschland der EU-Kommission den Nationalen Aufbau- und Resilienzplan i.H.v. 27,9 Mrd. Euro vorgelegt. Was sind die Prioritäten und Ziele des Plans?

Mir war wichtig, dass dieser Plan eine sozialpolitische Handschrift trägt und in die Zukunft wirkt. Deshalb haben wir uns stark gemacht für Maßnahmen, die Auszubildende unterstützen, Weiterbildung für den digitalen Wandel fördern und mehr Transparenz bei der Altersvorsorgem schaffen. Das entspricht auch der Zielsetzung der RRF, nämlich integratives Wachstum zu fördern, den sozialen Zusammenhalt zu stärken und die Beschäftigungschancen für die nächste Generation zu verbessern.

 

Welche Auswirkungen hatte die Pandemie auf die Arbeitswelt in Deutschland? Welche Rolle hat sie bei der Teleheimarbeit in Deutschland gespielt?

Die Covid 19-Pandemie ist auch für Deutschland die größte Herausforderung unserer Zeit. Für uns alle war es ein kräftezehrendes Jahr, beruflich und privat. In solch einer Krise ist ein starker und helfender Staat gefragt. Oberste Aufgabe war und ist natürlich der Schutz von Leben und Gesundheit. Zugleich geht es aber darum, Familien, Unternehmen, unser Bildungssystem und soziale Einrichtungen gut durch die Zeit zu bringen. Die Pandemie war da wie eine Lupe. Man konnte plötzlich klar erkennen, was gut funktioniert - und was nicht.

Einiges wird uns auch nach der Pandemie erhalten bleiben. Weil Kontaktvermeidung so wichtig war, wurden zum Beispiel viele Arbeiten plötzlich ins Homeoffice verlagert. Dieser ungeplante Großversuch hat gut funktioniert. Homeoffice ist nun dauerhaft normal, da bin ich mir sicher. Im Mai 2021 arbeitete fast die Hälfte der Angestellten teilweise im Homeoffice. Die meisten sind zufrieden und sagen klar, dass sie auch künftig Homeoffice-Tage wollen. Auch die Arbeitgeber haben sich oft daran gewöhnt. Jüngst war ich in einem Unternehmen, das auf zehn Beschäftigte nur noch sechs Präsenzarbeitsplätze einplant.

Ich bedauere deshalb, dass wir einen echten Rechtsanspruch auf mobiles Arbeiten mit unserem konservativen Koalitionspartner nicht umsetzen konnten. Ich halte ihn immer noch für richtig - und er bleibt auf der Agenda. Dabei ist klar, dass auch im Homeoffice Arbeitsschutz und Arbeitsrecht gelten müssen. Auch daheim brauchen wir Pausen - und irgendwann Feierabend. Und Arbeitsunfälle müssen so versichert sein wie sie es im Büro sind.

 

Laut EUROSTAT lag die Höhe der Mindestlöhne in der EU zu Jahresbeginn zwischen 332 Euro in Bulgarien und 2.202 Euro in LUX. Was gilt für den Mindestlohn in Deutschland? Und für wie realisierbar halten Sie die Einführung eines Mindestlohns auf europäischer Ebene?

Deutschland hat den Mindestlohn 2015 eingeführt. Und der ist eine Erfolgsgeschichte. Im Moment liegt er bei 9,50 Euro brutto pro Stunde (ab 1. Juli 2021 bei 9,60 Euro). Dank ihm verdienen gerade jene mit harter und oft schlecht bezahlter Arbeit jetzt mehr. Und er ist ein Zeichen des Respekts. Jede Arbeit hat einen Wert, jede Leistung wird gerecht entlohnt.

Deshalb setze ich mich dafür ein, dass wir in der EU einen gemeinsamen Rechtsrahmen für Mindestlöhne festlegen. Es geht dabei nicht darum, dass überall der gleiche Lohn gelten soll. Das geben auch die sehr unterschiedlichen Wirtschaftsstrukturen und Lebenshaltungskosten nicht her. Aber richtig finde ich, dass jeder Mitgliedstaat seinen Mindestlohn anhand vorgegebener Kriterien so festlegt, dass davon ein würdiges Leben möglich ist und der Abstand zum durchschnittlichen Lohn nicht zu groß wird.

 

In welchen Bereichen könnten die bilateralen Beziehungen zwischen Griechenland und Deutschland noch vertieft und verbessert werden?

Deutschland ist auf ausländische Fachkräfte angewiesen - und wird das weiter bleiben. Auch Griechinnen und Griechen sind da natürlich sehr willkommen. Momentan leben rund 360.000 Ihrer Landsleute in Deutschland. Insbesondere junge Menschen zeigen Interesse. Die Arbeitsverwaltungen beider Länder arbeiten seit Jahren gut zusammen und beraten Mobilitätswillige. In den vergangenen Jahren ging es vor allem um Fachkräfte für Pflege, Erziehung, Physiotherapie, Hotellerie sowie im Bau und im Handwerk. Die Pandemie hat natürlich auch hier gebremst. Wie auch in Griechenland waren Hotellerie und Gastronomie weitgehend geschlossen. Verloren war die Zeit aber nicht. Viele haben die Wartezeit durch deutsche Online-Sprachkurse und zu weiterer Vorbereitung genutzt.

 

Im März hat die EU-Kommission einen Aktionsplan für die Europäische Säule Sozialer Rechte (ESSR) vorgestellt. Auf dem Sozialgipfel in Porto bekräftigten die EU-Partner anhand einer Gemeinsamen Erklärung zum sozialen Engagement die drei wichtigsten Ziele für 2030. Sind Sie optimistisch, dass diese Ziele in den Bereichen Beschäftigung, Qualifikation und Sozialschutz bis 2030 erreicht werden?

Es geht ja gerade europaweit darum, die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie zu bewältigen. Die Säule enthält 20 Grundsätze zur Beschäftigungs- und Sozialpolitik. Überragendes Ziel ist es, die Lebensverhältnisse der Unionsbürgerinnen und -bürger überall zu verbessern und für mehr soziale Gleichheit zu sorgen. Und die bisherige Bilanz fällt durchaus positiv aus. Bereits unter Jean-Claude Juncker hat die EU-Kommission erste Vorhaben vorgelegt. Dem steht die aktuelle Kommission in nichts nach. Deren sozialpolitisches Ambitionsniveau war von Beginn an hoch. Und die Erklärung von Porto gibt uns den Rückenwind der Staats- und Regierungschefs. Mit den drei neuen Kernzielen für die EU zur Förderung von Beschäftigung und Weiterbildung und zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung bis 2030 haben wir ein Leitbild, um die EU sozialer zu machen.

Und zum Thema Optimismus: Ich spreche lieber von realistischer Zuversicht, und die habe ich auch hier: Die Ziele können bis 2030 erreicht werden, wenn alle Verantwortlichen das wollen.

 

Deutschland hat kürzlich die Revidierte Europäische Sozialcharta ratifiziert. Welches Signal sendet Deutschland mit der Ratifizierung der Charta bzgl. der Umsetzung europäischer Arbeits- und Sozialstandards und Arbeitnehmerrechte?

Die Revidierte Europäische Sozialcharta ist das soziale Herzstück des Europarates. Sie garantiert die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Arbeitnehmerrechte. Dass jetzt auch Deutschland diese vollständig ratifiziert hat, ist ein großer sozialpolitischer Erfolg. Deutschland betont damit auch das Bekenntnis zu den sozialen und wirtschaftlichen Grundrechten, deren Bedeutung sich gerade in der Covid-19 Pandemie gezeigt hat.

 

Wie wichtig ist der Dialog der Sozialpartner in Ihrem Land? Gab es Überlegungen zur Errichtung eines Wirtschafts- und Sozialrates in Deutschlands, wie es in anderen EU-Ländern der Fall war?

Die Sozialpartnerschaft ist eine der tragenden Säulen der Sozial- und Wirtschaftsordnung in Deutschland. Sie hat sich seit Jahrzehnten bewährt, in Zeiten der Krise und des Strukturwandels. Angesichts der rasanten Veränderungen am Arbeitsmarkt ist ein transparenter und sichtbarer Sozialdialog unverzichtbar. Der muss die Beteiligung aller Arbeitnehmergruppen und deren Vertretungen sicherstellen. So kann er am besten breite Akzeptanz gewinnen. Ich setze mich auch dafür ein, dass der Sozialdialog auf europäischer Ebene gestärkt wird.

 

Wie beteiligt sich die Zivilgesellschaft am wirtschaftlichen und sozialen Geschehen des Landes? Welche Rolle spielt das Nationale CSR-Forum?

Die CSR-Strategie der Bundesregierung setzt auf breite Beteiligung. Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände und die Zivilgesellschaft sind eng eingebunden. Beim Kampf um ein wirksames Lieferkettengesetz z.B. war die Zivilgesellschaft und die breite gesellschaftliche Debatte sehr wichtig. Mit ihrer Kampagnenarbeit hat sie sowohl Unternehmen als auch Verbraucher sensibilisiert.

 

Welche Erwartungen haben Sie an die Konferenz zur Zukunft Europas?

Die Konferenz zur Zukunft Europas ist ein sehr spannender Prozess. In europaweit stattfindenden Veranstaltungen können die rund 450 Millionen EU- Bürgerinnen und Bürger ihre Ideen für die mittel- und langfristige Entwicklung der Europäischen Union einbringen. „Wie soll die EU in 10 - 15 Jahren aussehen?“ – genau darum geht es. Ich bin überzeugt, dass die Debatten über die Zukunft Europas in die Mitte unserer Gesellschaft gehören. Die Konferenz ist damit eine noch nie dagewesene europaweite Übung in Sachen Demokratie, an der sich die Bundesregierung sehr gerne beteiligt. Diskussionen über europäische Mindeststandards, die EU-Krisenpolitik oder Inklusionsfragen dürfen nicht fehlen, wenn es um die Zukunft Europas geht.

 

Im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft hat das BMAS den effektiven Schutz der Menschenrechte in den Lieferketten vorangetrieben. Welche weiteren Themen stehen oben auf der Agenda in naher Zukunft?

Das Thema der nachhaltigen Lieferketten wird uns im Rahmen der EU weiter beschäftigen, denn noch in diesem Jahr wird die Kommission eine verbindliche Regelung zu unternehmerischen Sorgfaltspflichten vorschlagen. Deutschland unterstützt die Initiative von Kommissar Reynders sehr.

Im September wird Deutschland ein neues Parlament wählen. Unabhängig vom Ergebnis kann ich jetzt schon sagen: Die ‚Arbeit von morgen‘ wird für das BMAS ganz oben auf der Agenda stehen. Denn die Gleichzeitigkeit von Digitalisierung, demografischen Wandel und notwendiger Klimapolitik bewirkt, dass wir unseren Arbeitsmarkt, unser Arbeitsrecht und auch unsere Bildungspolitik anpassen müssen. Wenn die Plattformökonomie weiterwächst, müssen wir Regeln für die dort Beschäftigten finden. Wenn immer mehr Menschen Homeoffice nutzen, müssen wir Schutzstandards auch dafür etablieren. Und wenn Wissen und Können immer schneller veraltet, müssen wir das lebenslange Lernen ins Zentrum unserer Politik rücken. Deutschland muss zur Weiterbildungsrepublik werden. Nur so können die Arbeitskräfte von heute die Arbeit von morgen machen. Und nur so werden wir auch morgen und übermorgen ein wirtschaftlich und sozial starkes Land sein.